Jüdisches Leben zurück in die Stadt holen
Pressemitteilung der Stadt Oldenburg vom 09.11.2023:
In der Stadt Oldenburg werden seit 2021 an jenen Orten, an denen von den Nationalsozialisten verfolgte und ermordete jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger lebten und wirkten, Erinnerungszeichen „auf Augenhöhe“ angebracht – als Wandtafeln an der Fassade und als Stelen auf öffentlichem Grund. Die Erinnerungszeichen errichtet die Oldenburger Bürgerstiftung gemeinsam mit der Stadt Oldenburg und in Zusammenarbeit mit dem Verein Werkstattfilm. Zwischen dem 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, und dem 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, werden in den nächsten Monaten weitere Erinnerungszeichen im Stadtgebiet installiert. Zum Auftakt wurde mit einer Gedenkveranstaltung im Alten Rathaus, die musikalisch vom „Duo Sempre“ untermalt wurde, an das Schicksal des Oldenburger Kaufmanns Siegfried Samuel Weinberg erinnert, der 1943 im Vernichtungslager Sobibór (Polen) gestorben ist.
Holocaust-Erinnerung hat neue Bedeutung
Oberbürgermeister Jürgen Krogmann betonte in seiner Ansprache, dass die Erinnerung an den Holocaust nach dem barbarischen Großangriff der Hamas auf Israel eine neue Bedeutung gewonnen habe. Krogmann ging dabei auch auf die Lage in Oldenburgs israelischer Partnerkommune Mateh Asher ein: „Es ist schwer zu ertragen, dass Menschen, die wir seit Jahren kennen und mit denen uns Freundschaften verbinden, in Gefahr sind.“ Teile von Mateh Asher seien von Raketen getroffen, acht Gemeinden nahe der Grenze zum Libanon evakuiert worden. Man halte Kontakt zu Mateh Asher, so Krogmann. Es sei wichtig, die demokratischen Werte und den Frieden zu betonen und sich gemeinsam gegen den Hass zu stellen. Krogmann dankte der Bürgerstiftung für ihr unermüdliches Engagement in der Erinnerungsarbeit: „Ich weiß das sehr zu schätzen – in diesen schwierigen Zeiten umso mehr.“
Oldenburgs besondere Verantwortung
Der Vorsitzende der Bürgerstiftung und ehemalige Oldenburger Oberbürgermeister, Dietmar Schütz, machte deutlich, dass Oldenburg als erstes Land im damaligen Deutschen Reich, in dem die Nazis 1932 an die Macht kamen, eine besondere Verantwortung habe, vertriebenen und ermordeten Jüdinnen und Juden wieder einen sichtbaren Platz an den Stätten ihrer letzten Wohnorte zu geben. Mit den durch Spenden und Sponsoring finanzierten Erinnerungszeichen werde das ehemals jüdische Leben mit Hilfe der heutigen Bürgerinnen und Bürger in die Stadt zurückgeholt.
Erinnerungsarbeit mit klarem Ziel: „Nie wieder!“
Schütz kritisierte vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges „neben dem Antisemitismus alter Prägung“, der sich auch bei uns neu entfaltet hat, den „aktuell größtenteils importierten Antisemitismus“ und über arabisch-palästinensische Gruppen hereingetragenen Angriff auf jüdisches Leben und „jüdisches Hiersein“ in Deutschland. „Wer bei uns die sunnitische Hamas oder die schiitische Hisbollah als Befreiungsarmee zur Befreiung Palästinas und damit zur Vernichtung Israels begreift, stellt sich gegen einen Kernbereich unserer aus der Verantwortung für den Holocaust hergeleiteten Staatsraison, eine Schutzmacht Israels zu sein“, sagte Schütz. Er begrüßte es, dass die Bundesregierung und fast alle Teile der Opposition diese Staatsraison auf das Existenzrecht Israels betont haben. „Für unsere Erinnerungskultur bedeutet dies, dass wir der ermordeten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger weiter gedenken. Für die unter uns lebenden Jüdinnen und Juden bedeutet dies, dass wir es nicht zulassen, dass sich diese Geschichte wiederholt. Unsere Erinnerungsarbeit soll auf das ,Nie wieder‘ hinarbeiten. Und so soll es bleiben! Nie wieder!“
Nach der Gedenkveranstaltung im Rathaus folgte die Aufstellung der Erinnerungszeichen in Höhe des Geschäftshauses Haarenstraße 15 – an dieser Stelle befand sich einst die von Siegfried Weinberg betriebene Honig- und Wachshandlung – sowie an der Nordstraße 2, der damaligen Wohnadresse der Familie Weinberg.
Über das Schicksal von Siegfried Weinberg
Siegfried Weinberg wurde am 8. März 1859 in Oldenburg geboren. Er war verheiratet mit Johanna Weinberg, geborene van Buuren, die aus Amsterdam stammte. Seine Frau verstarb bereits 1927. Das Paar hatte zwei Töchter und einen Sohn – Erna, Annie und Ernst. Siegfried Weinberg war Inhaber der Firma S. J. Ballin & Co. Honig- und Wachshandlung, die damals an der Haarenstraße 15 ansässig war, und eines Metallgroßhandels an der Burgstraße 24. Von 1918 bis 1939 lebte die Familie im Hause Nordstraße 2. Während der Novemberpogrome vom 9. bis zum 10. November 1938 wurde Siegfried Weinberg so wie viele jüdische Männer in Deutschland verhaftet und in Schutzhaft genommen. Am 11. November 1938 wurde er aus dem Gerichtsgefängnis Oldenburg entlassen. Mit seiner Tochter Erna, deren Ehemann und seiner Enkelin suchte er 1939 Zuflucht in Amsterdam bei der Mutter seiner verstorbenen Frau. Dort wurden sie verhaftet und am 4. Mai 1943 über das Durchgangslager Westerbork (Niederlande) in das Vernichtungslager Sobibór (Polen) deportiert, das sie am 7. Mai 1943 erreichten. Sie wurden vermutlich noch am selben Tag ermordet. Enkelin Ingeborg wurde 1944 verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte den Krieg und ging in die USA. Dort fanden auch Siegfried Weinbergs zweite Tochter Annie und sein Sohn Ernst eine neue Heimat.
Weitere Erinnerungszeichen folgen
Bis zum Auschwitz-Gedenktag am 27. Januar 2024 sollen weitere Erinnerungszeichen an folgenden Orten angebracht werden:
- Achternstraße 62: Hier befand sich die Wohnung von Rosa Herzberg und Gertrud Meyerstein. Rosa Herzberg wurde im Ghetto Theresienstadt am 29. März 1943 ermordet. Gertrud Meyerstein starb im KZ Auschwitz, ihr Todesdatum ist unbekannt.
- Bismarckstraße 25: Hier wird an Karolina Katz erinnert. Sie wurde im Ghetto Riga ermordet, ihr Todesdatum ist nicht bekannt.
- Gottorpstraße 15a: Hier wohnte Familie Hesse. Normann Hesse, seine Ehefrau Margarete, geborene Meyer, sowie die Kinder Lea und Manfred wurden ins Ghetto Minsk deportiert und dort ermordet.
- Grüne Straße 12 und 13: Das war der Wohnort von Babette „Betty“ Bernstein, geborene de Levie, und von Auguste Gertrud de Levie, beide ermordet am 9. November 1942 im KZ Auschwitz, sowie von Henny Silberberg, geborene Heinemann, ermordet am 18. August 1942 im Ghetto Theresienstadt.
- Kaiserstraße 7: Hier wird erinnert an Alexander Hirschfeld und an seine Ehefrau Emma Hirschfeld, geborene Auerhan, beide ermordet im KZ Kowno. Ihr Todesdatum ist unbekannt.
- Staustraße 3 und 4: Hier wird Samuel „Sally“ Ostro und Frieda Helene Ostro gedacht, ermordet vermutlich um den 20. September 1944 im Vernichtungslager Treblinka.
- Wilhelmstraße 30: Hier wohnten Jutta Meyerhoff, geborene Wieneck, und Carla Meyerhoff, die im Ghetto Lodz ums Leben kamen, ihr Todesdatum ist nicht bekannt.
Im Mai nächsten Jahres sollen Erinnerungszeichen für die Familie Insel in der Roggemannstraße 25 angebracht werden – dann hoffentlich in Anwesenheit ihrer Nachkommen, die ihre bereits jetzt geplante Reise wegen des Krieges in Israel absagen mussten.